1946: „Zwangsvereinigung“ und Urabstimmung

Unmittelbar nach Kriegsende sahen viele Sozialdemokrat/innen nicht nur eine enge Zusammenarbeit mit den Kommunist/innen, sondern auch den Zusammenschluss in einer gemeinsamen Partei auf der Tagesordnung. Nach dem „Bruderzwist“ während der Weimarer Republik und der NS-Diktatur barg die „Stunde Null“ nun die Möglichkeit eines Neuanfangs; die Spaltung der Arbeiterbewegung schien überwunden werden zu können.
Eine ebenso starke Strömung in der SPD – nicht zuletzt unter dem baldigen Parteivorsitzenden Kurt Schumacher in Hannover – lehnte von Anfang an die Vereinigung mit der KPD ab. Sie sah die Wahrung der Freiheit, politisch wie gesellschaftlich, als ihre erste Aufgabe an. In der SBZ und dem sowjetischen Sektor Berlins wurde die politische Freiheit und damit die Tätigkeit der demokratischen Parteien zunehmend eingeschränkt. Noch im Herbst 1945 wuchsen in den Reihen der Sozialdemo­krat/innen die Vorbehalte gegenüber der KPD. Die „Einheits-Euphorie“ war fast überall verflogen.
Die Mehrheit im SPD-Zentralausschuss unter Otto Grotewohl begann jedoch dem Druck der KPD nachzugeben und ließ sich in die Choreografie zur Gründung der SED einbinden. Die Sozialdemokrat/innen, die sich in Berlin hinter Franz Neumann, dem Reinickendorfer Kreisvorsitzenden, sammelten, wehrten sich gegen diese Vereinigung, die von KPD und SMAD wo nötig auch mit Zwang vollzogen werden sollte. Neumann war es, der eine Urabstimmung unter den Berliner SPD-Mitgliedern organisierte. Die über 33 000 waren am 31. März 1946 zur Stimmabgabe darüber aufgerufen, ob sie a) für den sofortigen Zusammenschluss der beiden Parteien und b) für ein Bündnis beider Parteien seien, das gemeinsame Arbeit und ein Ende des Bruderkampfes sichert.
Der Zentralausschuss hatte vergeblich zum Boykott der Urabstimmung aufgerufen; 23 755 Mitglieder kamen in die Wahllokale. Im gesamten Ostsektor Berlins aber war die Abstimmung unterbunden worden. Wo sich die Sozialdemokrat/innen dem Verbot der Sowjets widersetzten, wurden die Wahllokale durch die Volkspolizei geschlossen. In Lichtenberg etwa, wo Gisela Mießnerund ihr Mann die Urabstimmung durchführen wollten, erreichte das Verbot die Wahllokale z.T. erst, als diese morgens schon geöffnet hatten. Das Wahlmaterial wurde umgehend beschlagnahmt, die Wahlhelfer/innen vorübergehend festgenommen.

Christian Kind über Gisela Mießner und den Widerstand gegen die „Zwangsvereinigung“ in Lichtenberg

In den drei Berliner Westsektoren votierten 82,2% gegen die sofortige Vereinigung. 61,7% sprachen sich für ein Bündnis aus. Es hatte eine große symbolische Wirkung, dass Franz Neumann, die Stimme des Widerstandes gegen eine Zwangsvereinigung, kurz darauf zum langjährigen Vorsitzenden der Berliner SPD wurde. Am 7. April 1946 kam die SPD in der Zinnowwaldschule zum Parteitag zusammen und wählte einen eigenen Landesvorstand – der bis zum Vereinigungsparteitag noch zwei Wochen lang parallel zum alten Bezirksvorstand bestand und diesem somit jegliche Legitimation absprach. Dieser Bezirksvorstand schloss sich bereits am 19. April mit der KPD-Führung zur SED-Bezirksleitung zusammen und am 21. und 22. April gründete sich die Einheitspartei im Admiralspalast.

Nils Diederich, Professor a.D. für Soziologie an der FU Berlin, langjähriges Landesvorstandsmitglied und Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion

Nach einem Beschluss der Alliierten Kommandantur vom Mai 1946 blieben die SPD und die SED in ganz Berlin gleichberechtigt zugelassen. Die ersten und letzten freien Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung in ganz Berlin am 20. Oktober 1946 gingen klar für die SPD (48,7%) aus; die SED wurde mit 19,8% nur drittstärkste Partei.

 

Literaturtipps:

Manfred Rexin: Die SPD in Ost-Berlin 1946-1961, Heft 5 der Schriftenreihe des Franz-Neumann-Archivs, 2. erw. Aufl., Berlin 1989

Zwangsvereinigung von SPD und KPD in Berlin, mit Beiträgen von Helga Grebing,
Siegfried Heimann und Manfred Rexin, Berlin 1996

Die Frage der Wiedervereinigung
1989: Der rot-grüne Senat / "Das Feminat"
Teilung und Alltag
Migrationspolitik in Berlin
1968: Höhepunkt der Flügelkämpfe
Mauerbau
1958: Der Wechsel an der Spitze von Franz Neumann zu Willy Brandt
Die Falken
1945-1961: Die SPD in Ostberlin
1946: "Zwangsvereinigung" und Urabstimmung
1945: Wiedergründung der SPD